Propagandarückschau Januar 2023
Eine Recherche in den Online-Archiven der Nachrichtenredaktionen von ARD und ZDF ergibt, dass die beiden öffentlich-rechtlichen Medien die Bezeichnung „Stellvertreterkrieg“ für den bewaffneten Konflikt in der Ukraine seit 2022 fast ausschließlich nur noch im Kontext von Aussagen russischer Regierungsvertreter verwenden. Gedeutet werden diese Zitate als Versuch Russlands, die Schuld für die Eskalation des seit 2014 in der Ukraine tatsächlich stattfindenden Stellvertreterkrieges zwischen Russland und der Nato von sich abzuweisen. Die konsequente Anwendung dieser Propagandatechnik des Framings, also das Setzen des Begriffs “Stellvertreterkrieg” in einen neuen Deutungsrahmen, hat Auswirkungen auf die öffentliche Meinung in Deutschland.
Der Krieg in der Ukraine erfüllt alle Kriterien eines klassischen Stellvertreterkrieges, wie er im Kalten Krieg zwischen den USA und ihren Verbündeten auf der einen sowie der Sowjetunion und ihren Verbündeten auf der anderen Seite beispielsweise in Vietnam und Afghanistan geführt wurde.
Der Wikipedia-Beitrag zu diesem Thema definiert einen Stellvertreterkrieg wie folgt:
„Als Stellvertreterkrieg wird ein Krieg bezeichnet, in dem sich zwei oder mehr in Konflikt befindliche Großmächte nicht direkt militärisch auseinandersetzen, sondern diese militärische Auseinandersetzung in einem oder mehreren Drittstaaten austragen. […] Der Stellvertreterkrieg zeichnet sich dadurch aus, dass ein in den Drittstaaten meist bereits bestehender Konflikt, Bürgerkrieg oder Krieg zu den jeweils eigenen Zwecken der involvierten Großmächte instrumentalisiert und, sofern dieses noch nicht der Fall ist, zu einem militärischen Konflikt ausgeweitet wird. Primäres Ziel der Großmächte im Stellvertreterkrieg ist der Erhalt bzw. die Erweiterung der jeweiligen Interessensphäre auf Kosten der anderen Großmächte.
Die Kriegsparteien im Drittstaat erhalten dabei direkte oder indirekte Unterstützung mit dem Ziel, der jeweils geförderten Kriegspartei zum Sieg zu verhelfen. Die Unterstützung kann sowohl militärischer (Militärhilfe) als auch logistischer, finanzieller oder anderweitiger Natur sein. Durch einen Sieg der jeweiligen Kriegspartei wird die Interessensphäre der unterstützenden Großmacht ausgeweitet und gefestigt.
Die Maßnahmen der beteiligten Großmächte für ihre jeweiligen Stellvertreter werden in zwei verschiedene Arten unterteilt:
Indirekte Maßnahmen
Die Stellvertreter werden finanziell, militärisch (z.B. durch Militärberater) oder anderweitig unterstützt.
Direkte Maßnahmen
Es erfolgt ein offizieller militärischer Eingriff durch Soldaten mindestens einer beteiligten Großmacht.
Die Hauptursache für einen Stellvertreterkrieg ist im Allgemeinen der Umstand, dass die beteiligten Großmächte eine direkte militärische Konfrontation nicht wollen. Die Gründe hierfür können vielschichtig sein. Zum einen sollen mögliche Eskalationsstufen zwischen den eigentlichen Kriegsparteien vermieden werden. So hätte beispielsweise ein Krieg zwischen den USA und der UdSSR fast zwangsläufig zu einem atomaren Krieg geführt. Die Stellvertreterkriege ermöglichten dagegen auch im Kalten Krieg die kontrollierte konventionelle Kriegsführung. Andererseits sind die Bevölkerungen der beteiligten Großmächte nicht die primär Leidtragenden des Konfliktes, sondern hauptsächlich die Bevölkerungen der Drittstaaten, so dass sich die Beteiligung an einem Stellvertreterkrieg gegenüber der eigenen Bevölkerung leichter verantworten oder geheim halten lässt.“
Einstufung des Bürgerkriegs in der Ukraine seit 2014 als Stellvertreterkrieg
Mit dem Ende der Sowjetunion und der Unabhängigkeit der Ukraine im Jahr 1991 fand sich das Land an der Grenze zweier geopolitischer Einflusssphären wieder – der EU und der Nato-Staaten im Westen und der Russischen Föderation im Osten. Genau genommen verläuft die Grenze durch die Ukraine selbst. Im Westen des Landes leben vornehmlich ukrainisch-stämmige Menschen, während im Süden und im Osten sowie auf der Krim der Anteil der russisch-stämmigen Einwohner bei bis zu 75 Prozent liegt. Der Anteil der russischsprachigen Bevölkerung ist in diesen Gebieten noch einmal deutlich höher. Während die Vereinigten Staaten und die Europäische Union die Möglichkeit sehen, ihr Einflussgebiet Richtung Osten mit der Aufnahme der Ukraine in die EU und die Nato zu erweitern, versucht Russland dies mit aller Macht zu verhindern. Beide Seiten haben diese widerstrebenden Interessen stets öffentlich bekundet.
Seit 2013 herrscht in der Ukraine ein zunehmend gewaltsamer Konflikt zwischen prorussischen und prowestlichen Kräften. Dieser hatte sich entzündet, als die ukrainische Regierung auf Druck Russlands die Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union aussetzte. 2014 gipfelten die Proteste auf dem Maidan in Kiew in der Absetzung des ukrainischen Präsidenten und der Bildung einer prowestlichen Übergangsregierung, die fast zur Hälfte aus Mitgliedern der rechtsradikalen und radikal nationalistischen ukrainischen Partei Swoboda bestand. Russland reagierte darauf mit der Eingliederung der Krim in die Russische Föderation – ein Akt, der vom Westen als völkerrechtswidrig angesehen wird. Ein wichtigstes Motiv für das russische Vorgehen war die Erhaltung des Hauptstützpunktes der russischen Schwarzmeerflotte der auf der Halbinsel.
Eine weitere Folge des Machtwechsels in Kiew waren Bestrebungen der Regionen Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine, sich von der Ukraine abzulösen. In diesem Landesteil, der auch Donbas genannt wird, lebt der Großteil der nach der Eingliederung der Krim in die Russische Föderation verbliebenen ethnischen Russen in der Ukraine. Es entwickelte sich ein Bürgerkrieg, in dem die Regierung in Kiew zunächst hauptsächlich von den USA, Frankreich und Großbritannien mit Krediten, der Ausbildung von Soldaten und Waffenlieferungen unterstützt wurde, während die Regionen Donezk und Luhansk Hilfe von Russland erhielten.
In den kriegerischen Auseinandersetzungen im Donbas starben bis Ende 2021 circa 14.000 Menschen. Die Unterstützung der gegnerischen Konfliktparteien im ukrainischen Bürgerkrieg seit 2014 durch Nato-Staaten auf der einen sowie Russland auf der anderen Seite ist ein eindeutiges Kriterium für die Einstufung der bewaffneten Auseinandersetzungen in der Ukraine als Stellvertreterkrieg zwischen den USA mit ihren Verbündeten und Russland.
In dem Wikipedia-Beitrag „Stellvertreterkrieg“ wird die Kategorisierung des Konflikts in der Ukraine als eine derartige Auseinandersetzung jedoch als umstritten dargestellt (Stand 20. Januar 2023), da Russland im Februar 2022 die Ukraine in einem Angriffskrieg überfallen habe. Das einseitige direkte militärische Eingreifen in einen bestehenden Stellvertreterkrieg stellt jedoch keine Seltenheit dar. Während sich im Vietnamkrieg, dem ersten Stellvertreterkrieg, der auch als ein solcher bezeichnet wurde, die sowjetische und chinesische Seite auf die Belieferung der Nordvietnamesen mit Waffen und Ausrüstung beschränkte, nahmen die USA von 1965 bis 1973 selbst an den Kampfhandlungen an der Seite Südvietnams teil. Zeitweise befanden sich über eine halbe Millionen US-Soldaten in dem südostasiatischen Land.
Im Grunde widerspricht die Darstellung in dem Wikipedia-Beitrag, die Einstufung des Ukraine-Konflikts als Stellvertreterkrieg sei „umstritten“, sowohl der wenige Absätze oberhalb angeführten Definition eines Stellvertreterkrieges als auch den danach folgenden Beispielen. Ein Blick in die Versionsgeschichte des Beitrags zeigt, dass dieser Abschnitt einer häufigen Veränderung unterzogen wurde. Zum Teil findet man in einigen Versionen eine eindeutige Einstufung des Konflikts in der Ukraine als Stellvertreterkrieg zwischen dem Westen unter der Führung der USA und Russland.
Es ist offensichtlich, dass unter den Wikipedia-Autoren Uneinigkeit hinsichtlich der Einordnung dieses zeitgeschichtlichen geopolitischen Ereignisses herrscht. Ein Grund dafür könnte darin liegen, dass einflussreiche Medien wie die ARD und das ZDF den Begriff seit Beginn der direkten Beteiligung der russischen Armee an den Kampfhandlungen in der Ukraine konsequent im Kontext russischer Propaganda darstellt.
Die Verwendung der Bezeichnung „Stellvertreterkrieg“ für den militärischen Konflikt in der Ukraine in ARD und ZDF
Obwohl die militärischen Auseinandersetzung in der Ukraine seit 2014 allen Kriterien eines Stellvertreterkrieges zwischen den USA und den verbündeten Nato-Staaten auf der einen und Russland auf der anderen Seite entsprechen, vermeidet die Redaktion von ARD-aktuell explizit die eigene Verwendung dieser Bezeichnung. ARD-aktuell ist für die für die Nachrichtenformate „Tagesschau“, „Tagesthemen“, „Nachtmagazin“, „Tagesschau-Nachrichten“ und „tagesschau.de“ verantwortlich.
Auffällig ist, dass im Februar 2015, im Zuge der Verhandlung zum Minsker Abkommen, in den Tagesthemen zwei Kommentare gesendet wurden, in denen der Begriff „Stellvertreterkrieg“ in seiner ursprünglichen Bedeutung im Zusammenhang mit der Ukraine verwendet wurde. In der Sendung vom 9. Februar äußerte der NDR-Journalist Stefan Niemann ab Minute 9:
„Die Kanzlerin [Angela Merkel] fürchtet zu Recht einen eskalierenden Stellvertreterkrieg zwischen Russland und den USA. Weit weg von Amerika gewiss, aber mitten in Europa – ein anachronistischer Alptraum direkt vor unserer Haustür.“
Quelle: Tagesthemen
In den Tagesthemen vom 11. Februar kommentierte der WDR-Journalist George Restle ab Minute 17:
„[Wenn Minsk scheitert,] würden die Falken den Kurs bestimmen, nicht nur in Moskau und Kiew, sondern auch in Brüssel und Washington. Dann droht er ganz offen, der Stellvertreterkrieg zwischen Ost und West, geführt mit den Waffen der alten Weltmächte auf dem Rücken einer Bevölkerung, die mit diesem Krieg eigentlich nichts zu tun hat.“
Quelle: Tagesthemen
Zum damaligen Zeitpunkt wurde in den Kommentaren der Tagesthemen noch offen vor einem drohenden Stellvertreterkrieg in der Ukraine gewarnt. Nachdem der Begriff über Jahre in den Meldungen von ARD-aktuell nicht erneut aufgetaucht ist, kehrt er im April 2022 zurück, jedoch mit einer vollkommen anderen Konnotation. Zwischenzeitlich sind die Befürchtungen der Kommentatoren in den Tagesthemen eingetreten und der Konflikt in der Ukraine hat sich zu einem klassischen Stellvertreterkrieg entwickelt, in den auch Deutschland involviert ist. Als Zitate von russischen Regierungsvertretern wird die Bezeichnung „Stellvertreterkrieg“ mittlerweile jedoch fast ausschließlich als Propaganda Russlands dargestellt, das damit die Schuld für den Krieg in der Ukraine von sich weisen will.
Zu finden ist diese Einordnung in den nachfolgenden Quellen:
- In dem Interview mit Gustav Gressel, Senior Policy Fellow beim European Council On Foreign Relations in Berlin, vom 7. April 2022, behauptet der Politikberater, Russland würde die Ziele einer Großmacht verfolgen und mit der Stilisierung des Begriffs „Stellvertreterkrieg“ den USA die Schuld für den Krieg in der Ukraine in die Schuhe schieben (Quelle: Tagesschau). Das European Council On Foreign Relations ist eine europäische Denkfabrik zu außenpolitischen Themen und ein Pendant der US-amerikanischen Denkfabrik Council on Foreign Relations.
- In einem Bericht über die Ostermärsche vom 16. April 2022 mit dem Titel „Friedensbewegung aus der Zeit gefallen?“ wird der Stellvertreterkrieg in der Ukraine als Behauptung eines Friedensaktivisten dargestellt (Quelle: Tagesschau).
- Verwendung des Begriffs „Stellvertreterkrieg“ durch den russischen Außenminister Lawrow, mit der er die russischen Angriffe auf westliche Waffenlieferung in der Ukraine rechtfertigt, vom 26. April 2022 (Quelle: Tagesschau).
- Verweis auf die „verschärfte Rhetorik“ Lawrows vom ARD-Korrespondenten in den USA auf die Frage, ob Deutschland und die USA durch die Waffenlieferungen an die Ukraine nicht längst Kriegsparteien geworden sind, vom 27. April 2022. In seinen Äußerungen bezeichnet der Korrespondent die Vermeidung der Teilnahme an direkten Kampfhandlungen durch die USA und ihren Verbündeten als rote Linie und unterstellt damit, dass sich der Westen nicht in einem Stellvertreterkrieg in der Ukraine befindet (Quelle: Nachtmagazin).
- Bericht in der Tagesschau über die Pressekonferenz des US-Präsidenten Biden, in der dieser den Vorwurf Russlands, die Nato würde in der Ukraine einen Stellvertreterkrieg führen, zurückweist, vom 28. April 2022 (Quelle: Tagesschau).
- In dem Interview mit Stefan Meister, Programmleiter Internationale Ordnung und Demokratie bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, vom 10. Mai 2022, bezeichnet der Politikberater die Aussage Putins, die USA und die Nato würden in der Ukraine mithilfe von ukrainischen Faschisten einen Stellvertreterkrieg führen, als absurd. Die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik ist eine Denkfabrik und Ableger der privaten US-amerikanischen Denkfabrik Council on Foreign Relations sowie der privaten britischen Denkfabrik Chatham House (Quelle: Tagesschau).
- Meldungen über Aussagen des ehemaligen russischen Präsidenten Medwedew, in denen dieser den USA, der Nato und den westlichen Staaten einen Stellvertreterkrieg mit Russland in der Ukraine vorwirft, vom 11. Mai (Quelle: tagesschau.de) und 26. August 2022 (Quelle: tagesschau.de).
- Meldung über die Aussage des Kreml-Sprechers Peskow, die USA würden in der Ukraine einen „indirekten Krieg“ mit Russland führen sowie über die Aussage des russischen Botschafters in den USA Antonow, die USA würden sich in der Ukraine in einem Stellvertreterkrieg mit Russland befinden, vom 22. Dezember 2022 (Quelle: Tagesschau).
Auch in den Meldungen von ZDFheute wird die Bezeichnung „Stellvertreterkrieg“ fast ausschließlich als russische Propaganda dargestellt
In der Rubrik „ZDFheute“ finden sich nur wenige Meldungen und Ausschnitte aus Talkrunden, in denen der Begriff „Stellvertreterkrieg“ im Zusammenhang mit der Ukraine genannt wird. In der Sendung „maybritt illner“ vom 5. Mai 2022 streitet Nicole Deitelhoff, Professorin für Internationale Beziehungen und Theorien globaler Ordnungspolitik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main sowie Direktorin der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, ab, dass in der Ukraine ein Stellvertreterkrieg stattfindet und behauptet, dass die USA den Krieg in der Ukraine nicht gewollt hätten (Quelle: maybritt illner). Diese Behauptung widerspricht dem langjährigen, teils aggressiven Engangement der USA in der Ukraine. Da Deitelhoff diese Hintergründe des Ukraine-Konflikts kennen dürfte, liegt der Verdacht nahe, dass sie in der ZDF-Sendung mit dieser Äußerung das erste Gebot der Kriegspropaganda laut der Historikerin Anne Morelli bedient und einseitig für die Position des Westens wirbt. Die Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung ist eine Denkfabrik des Bundeslands Hessen.
Im Morgenmagazin vom 24. August 2022 äußert der ehemalige Vizekanzler und jetzige Vorsitzende der Atlantik-Brücke Sigmar Gabriel die Befürchtung, die Sichtweise, es handele sich bei dem Konflikt in der Ukraine um einen Stellvertreterkrieg, könne sich im globalen Süden durchsetzen. Dies könnte dazu führen, dass der Westen die Auseinandersetzung um die Frage, wer eigentlich an dem Konflikt schuld sei, verliert (Quelle: Morgenmagazin). Die Atlantik-Brücke ist eine Elite-Organisation, die Lobbyismus für die transatlantische Partnerschaft zwischen den USA und Deutschland betreibt.
In der Sendung „Markus Lanz“ vom 3. November 2022 behauptet der FDP-Politiker Gerhart Baum, beim Ukraine-Konflikt handele es sich nicht um einen Stellvertreterkrieg zwischen Russland und den USA, sondern um einen „Krieg zwischen denen, die das Völkerrecht verteidigen und die Menschenrechte, und denen, die es mit den Füßen treten“ (Quelle: Markus Lanz). Damit widerspricht er sich im Grunde selbst, denn mit denen, die das Völkerrecht und die Menschenrechte verteidigen, meint er die Nato-Staaten inklusive der USA und mit denen, die es mit den Füßen treten, Russland. Danach folgt mit der Aussage, die Ukraine verteidige auch „uns [und] unsere Prinzipien, mit dem Unterschied, dass wir Waffen liefern, und die opfern ihr Leben“, eine exakte Beschreibung für die Beteiligung Deutschlands an einem Stellvertreterkrieg.
Der einzige Grund, warum die widersprüchliche Argumentation Baums nicht sofort auffliegt, liegt darin, dass er eine propagandistische Verdrehung eingebaut hat. Die Ukrainer würden nicht für die geopolitischen Interessen der USA und der EU kämpfen, sondern für deren Werte, die sich an universellen Prinzipien wie den Menschenrechten und dem Völkerrecht orientieren. Sie kämpften sozusagen für ein höheres, moralisch unanfechtbares Ziel, und nicht für die profane Erweiterung des Einflussgebietes derjenigen, die ihnen die Waffen und finanzielle Unterstützung liefern – selbstverständlich vollkommen selbstlos und ebenso höheren Motiven folgend. Auch diese Technik der Kriegspropaganda findet sich in den Geboten der Historikern Morelli wieder.
Mit diesem einfachen Propagandatrick, der sich spätestens seit dem Beginn der Beteiligung Deutschlands an dem Stellvertreterkrieg in der Ukraine in fast allen Nachrichtenformaten der öffentlich-rechtlichen deutschen Medien wiederfindet, rechtfertigen die Eliten seit Menschengedenken ihre kriegerischen Auseinandersetzungen gegenüber dem eigenen Volk. Dieses muss letztendlich in allen Herrschaftsformen vom Krieg überzeugt werden, da es stets für die gewaltsam durchgesetzten Ziele der Eliten Menschenleben und Wohlstand opfern muss.
Mit dem gleichen Argument arbeitet auch der ukrainische Botschafter Makeiev, wenn er von den Nato-Staaten mehr Waffen und Unterstützung für die Ukraine fordert und in diesem Zusammenhang ausdrücklich den Begriff „Stellvertreterkrieg“ verwendet. Russland führe nicht nur einen Krieg gegen die Ukraine, sondern gegen Europa und die ganze zivilisierte, demokratische Welt, so der Botschafter in einer Meldung vom 15. Januar 2023 (Quelle: ZDFheute).
Zudem wird in der Meldung des ZDF die Aussage des Botschafters, deutsche Waffen würden Leben retten, unhinterfragt und unkommentiert wiedergegeben. Derartige Äußerungen erinnern an orwellsches Doppeldenk, denn keine einzige Waffe, die jemals gefertigt wurde, weder in Deutschland noch anderswo, hatte zum Ziel, Leben zu retten. Waffen werden auf dem Schlachtfeld eingesetzt, um politische Interessen gegenüber einem Gegner gewaltsam und auf Kosten von Menschenleben durchzusetzen.
Schlussendlich findet sich im Online-Archiv von ZDFheute nur ein einziger Beitrag, in dem der Konflikt in der Ukraine als Stellvertreterkrieg zwischen Russland und den USA dargestellt wird. Allerdings steht diese Aussage nicht für sich, sondern wurde von der deutschen Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot im Rahmen eines Streitgesprächs mit der FDP-Politikerin, Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses des Bundestages und Nato-Lobbyistin Marie-Agnes Strack-Zimmermann in der Sendung „Markus Lanz“ vom 2. Juni 2022 getätigt. Letztere widersprach Guérot unter anderem mit Angriffen auf die Person (“Wir sind doch hier nicht in der Vorlesung an der Universität”) sowie mit Argumenten auf emotionaler Ebene, in denen sie mehr Solidarität mit den Ukrainern fordert. Angriffe auf die Person stellen eine Propagandatechnik dar, um die Meinung des Gesprächspartners zu diskreditieren und eine echte Diskussion mit Argumeten zu vermeiden. Zu welcher Seite die Redaktion von ZDFheute selbst tendiert, ist allein am Titel des Beitrages erkennbar: Strack-Zimmermann: “Empathie wäre hilfreich” (Quelle: Markus Lanz).
Auswirkungen des Framings des Begriffs „Stellvertreterkrieg“ als russische Propaganda auf die öffentliche Meinung
Aus der Versionsgeschichte des Wikipedia-Beitrags „Stellvertreterkrieg“ ist zu entnehmen, dass der Konflikt in der Ukraine das erste Mal am 26. Februar 2022 mit den Worten „Die Ukraine bekommt militärische Hilfe in Form von Ausrüstung von diversen europäischen Staaten, u.a. Frankreich und den Niederlanden“ (Quelle: Wikipedia) als Beispiel für einen Stellvertreterkrieg genannt wurde. Am 15. März 2022 erfolgte eine Änderung der Formulierung in:
„Der russisch-ukrainischer Konflikt begann im Februar 2014 mit der Annexion der Krim durch Russland als Reaktion auf den Euromaidan und die daraus resultierende Hinwendung der Ukraine zur Europäischen Union. Seitdem wird die Ukraine von den USA und dem Vereinigten Königreich militärisch unterstützt.
Im Zuge des russischen Überfalls auf die Ukraine 2022 bekommt die Ukraine militärische Hilfe in Form von Ausrüstung und Waffen seitens diverser Staaten der Europäischen Union und der NATO in deutlich gesteigertem Ausmaß. Ein aktives Eingreifen in den Konflikt findet jedoch nicht statt.“
Quelle: Wikipedia
Am selben Tag wurde die Textstelle in dem Beitrag von dem Wikipedia-Admin „Stefan64“ mit dem Hinweis, die Aussagen seien nicht belegt, wieder gelöscht.
Am 26. April 2022, also fast zeitgleich mit der Bewertung des Begriffs „Stellvertreterkrieg“ als russische Propaganda in der ARD erfolgte dann der Eintrag:
„Es ist allgemein umstritten ob der Krieg zwischen Russland und der Ukraine auch insgesamt als ein Stellvertreterkrieg bezeichnet wird.“
Quelle: Wikipedia
Nach mehreren Komplettlöschungen, Neuformulierungen und Änderungen, welche die Meinungsverschiedenheiten der Wikipedia-Autoren und Administratoren in dieser Sache widerspiegeln, lautete die Textstelle ab dem 20. Januar 2023:
„Es ist umstritten, ob der Russische Überfall auf die Ukraine als ein Stellvertreterkrieg zwischen Russland auf der einen Seite sowie den USA auf der anderen Seite bezeichnet werden kann.
Da die Vereinigten Staaten und deren westliche Verbündete die Ukraine logistisch, militärisch und finanziell massiv unterstützen, sei die Ukraine der Stellvertreter „des Westens“ in diesem Krieg, und es handele sich um einen Stellvertreterkrieg – so die Meinung einiger Journalisten. Andererseits sei die Ukraine direkt angegriffen worden, womit vielmehr ein Angriffskrieg der Großmacht Russland vorliege. Russland selbst versuche nun, über das politische Schlagwort „Stellvertreterkrieg“ die Kriegsschuld von sich zu weisen, da in einem klassischen Stellvertreterkrieg die Kriegsschuld bei den Hintermännern des Stellvertreters zu suchen sei.“
Quelle: Wikipedia
Damit gibt die Textstelle exakt die Standpunkte der in Deutschland einflussreichen Medien ARD und ZDF wider. Aufgrund der häufigen Anpassungen und Löschungen der Formulierung in dem Wikipedia-Beitrag in der Vergangenheit sind weitere Änderungen nicht nur ausgeschlossen, sondern eher wahrscheinlich.
Ganz offensichtlich existiert ein inhaltlicher und zeitlicher Zusammenhang zwischen der Darstellung in ARD und ZDF, der Begriff „Stellvertreterkrieg“ für den bewaffneten Konflikt in der Ukraine sei ein Propagandamittel Russlands, und den Änderungen der Formulierung in dem betreffenden Wikipedia-Eintrag. Es ist davon auszugehen, dass sich das Framing dieser Bezeichnung nicht nur auf die Sichtweise der Wikipedia-Autoren ausgewirkt hat, sondern auch auf die öffentliche Meinung in Deutschland.
Wer einseitig zu einem Konflikt berichtet und Partei bezieht, wird Teil des Konflikts
Die Nachrichtenredaktionen von ARD und ZDF haben mit der Setzung des Begriffs „Stellvertreterkrieg“ seit April 2022 in einem anderen Rahmen – nämlich als Versuch Russlands, seine Schuld an der Eskalation des Krieges in der Ukraine von sich abzuweisen – selbst eine Propagandatechnik angewendet und damit ganz offensichtlich bewusst die öffentliche Meinung manipuliert. Dies geschah einerseits durch die Auswahl von Interviewpartnern zu diesem Thema, die größtenteils transatlantischen Lobbyorganisationen angehören, sowie andererseits mithilfe der fast ausschließlichen Verwendung des Begriffs in Zitaten russischer Politiker, Diplomaten und Politikvertreter. Der einzige dargestellte kritische Standpunkt zu dieser Sichtweise durch Ulrike Guérot in der Sendung „Markus Lanz“ wurde durch Gegenmeinungen auf der Stelle abgeschwächt (siehe Analyse der Sendung durch die NachDenkSeiten).
Gleichermaßen findet in diesen Medien eine Ideologisierung der Gründe für die deutsche Beteiligung an dem Stellvertreterkrieg in der Ukraine statt. Aussagen von Interviewgästen, die Ukrainer kämpften für universelle abendländische Werte und Prinzipien gegen einen unmenschlichen, ja, bestialischen Gegner, werden als kurze Videoausschnitte explizit veröffentlicht und nicht kritisch hinterfragt. Damit täuschen ARD und ZDF über die tatsächliche Motivation Deutschlands an der Kriegsbeteiligung in der Ukraine hinweg und verwenden weitere Propagandatechniken, um die öfffentliche Meinung zu manipulieren. Jeder bewaffnete Konflikt in der Geschichte der Menschheit wurde geführt, um das eigene Einflussgebiet zu erhalten oder zu erweitern. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass zukünftige Historiker die Beteiligung Deutschlands an dem Stellvertreterkrieg in der Ukraine anders bewerten werden. Allenfalls der Druck des stärkeren Bündnispartners USA auf Deutschland könnte noch in die Bewertung einfließen.
Die Bundesregierung und der Bundestag haben mit den Entscheidungen über die Lieferung von Waffen und Ausrüstung sowie über die finanzielle Unterstützung der Ukraine längst entschieden, dass Deutschland an dem Stellvertreterkrieg in der Ukraine teilnimmt. Einen Wählerauftrag dafür gab es nicht, da sich keine Partei der Ampelkoalition in ihrem Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2021 dazu geäußert hat, welche Position sie bei einer Eskalation des bestehenden Konflikts in der Ukraine einnehmen würde. Die aktuell (Stand 20. Januar 2022) niedrigen Umfragewerte für das Vertrauen in den Bundeskanzler (33 Prozent), die Bundesregierung (34 Prozent) und den Bundestag (37 Prozent) lassen vermuten, dass es für eine Kriegsbeteiligung auch niemals eine demokratische Mehrheit gegeben hätte (Quelle: t‑online).
Mit der einseitigen, manipulativen und regierungsunkritischen Berichterstattung der Nachrichtenredaktionen der öffentlich-rechtlichen Medien haben auch diese sich zum Teil des Stellvertreterkriegs gemacht. Wer ihnen unkritisch folgt, läuft Gefahr, Opfer von gezielter Manipulation sowie Kriegspropaganda und damit selbst zum Teil des Konflikts zu werden. Dass ARD und ZDF diesen Weg eingeschlagen haben, ist im Grunde nicht verwunderlich, denn die Parteien, die in den letzten Jahrzehnten auf Landes- und Bundesebene die Regierungen gestellt haben, üben auch den größten Einfluss auf die Entscheidungsgremien dieser Medien aus (Quelle: Übermedien).
Nur ein von den Nutzern freiwillig finanzierter Journalismus, der nicht von politischen Parteien oder Investoren kontrolliert wird, hat im Prinzip das Potential einer neutralen, (regierungs-)kritischen und weitestgehend unabhängigen Berichterstattung. Warum dies so ist, stelle ich in meinem Beitrag „Der Weg aus der Zuschauerdemokratie“ dar.
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